Hat die Wissensgesellschaftdie Produktion vergessen?

Gastkommentar im Wirtschaftregional am 5. Mai 2023 von Dr. Martin Meyer, Präsident der Wirtschaftkammer Liechtenstein.

Liechtenstein dürfe den Übergang von der Industrie- zur Wissensgesellschaft nicht verpassen, hiess es noch vor wenigen Jahren. Wissen sei der Schlüssel zur Zukunft und werde zur Grundlage der Wirtschaft und des sozialen Zusammenlebens. Mutige Zukunftsforscher prognostizierten die Entstehung eines «vierten Sektors» nach Landwirtschaft, Industrie und Dienstleistungen, den Informationssektor. Aktuell ist davon weniger die Rede, dafür aber fragt man sich angesichts des akuten Mangels an Fachkräften und generell an Arbeitskräften, ob bei diesen Zukunftsprognosen nicht etwas vergessen wurde: Nämlich, dass trotz Automatisierung und Robotern immer noch viele Arbeiten von Hand verrichtet werden müssen.

Natürlich hat der Arbeitskräftemangel, der sich insbesondere im Produktionssektor zeigt, nicht nur diese eine Ursache. Aber es ist nicht von der Hand zu weisen, dass in den letzten Jahren der Schwerpunkt der Bildungspolitik mehr auf die Förderung der akademischen Berufswege als auf die Förderung der Berufsbildung gelegt wurde. In diesem Zusammenhang wäre es falsch, Eltern einen Vorwurf zu machen, wenn sie sich für ihre Kinder eine möglichst gute Ausbildung vornehmen. Auch ist es positiv  anzuerkennen, wenn Jugendliche selbst die bestmögliche Ausbildung anstreben. Auf der anderen Seite aber sollte realistisch anerkannt werden, dass die Wirtschaft eines Landes nicht nur von Akademikern betrieben werden kann. Für etwas Ernüchterung sorgt auch ein Rundblick in die Europäische Union: Je
höher die Maturaquote, umso höher die Jugendar
beitslosigkeit!

Die angespannte Situation auf dem Arbeitsmarkt wird sich in den nächsten Jahren weiter verschärfen. Die geburtenstarken Jahrgänge, die der Wirtschaft lange Zeit genügend Nachwuchs zur Verfügung stellten, verabschieden sich in den Ruhestand. Gleichzeitig streben mehr Jugendliche ein Studium an, womit Schulabgänger fehlen, die sich für eine Berufslehre interessieren. Was also tun? Die Wirtschaftskammer hat in Zusammenarbeit mit der Industrie- und Handelskammer mit grossem Erfolg die Berufs-Check-Wochen ins Leben gerufen, um den Jugendlichen die vielfältigen Möglichkeiten einer Arbeit in der Produktionswirtschaft zu zeigen. Insbesondere den Mädchen ist damit aufgezeigt worden, wie sie ihre
Fähigkeiten auch in technischen Berufen einset
zen können.

Die Früchte dieser Anstrengungen können in einigen Jahren geerntet werden. Aber es müssen
weitere Anstrengungen unternommen werden,
wenn das Gewerbe und die Industrie künftig
wieder mehr Fachkräfte aus dem eigenen Land
erhalten sollen. Andere Staaten und Regionen
fördern die gewerbliche Aus- und Weiterbildung
mit neuen Ideen und massiv mit finanziellen
Mitteln. Der Freistaat Bayern beispielsweise plant,
die Ausbildung bis zur Meisterprüfung kostenlos
anzubieten, analog zu einem kostenlosen Studien
platz. Ein solches Förderungsmodell wäre auch für
unser Land durchaus denkbar und würde für
Jugendliche einen Anreiz bieten, sich für eine
Ausbildung zum Facharbeiter statt für ein Studium
zu entscheiden. Ganz abgesehen davon, dass
damit auch die Anerkennung einer beruflichen
Ausbildung – vom Lehrling bis zum Meister – in
der Gesellschaft steigen würde.

Ein weiteres Potenzial, um den Fachkräfte- und Arbeitskräftemangel abzumildern, liegt bei den
Frauen. Besonders bei jenen Frauen, die einen
Wiedereinstieg nach einigen Jahren als Mutter
und Familienfrau planen. Aber auch bei jenen
Frauen, die Familie, Kinderbetreuung und Berufs
arbeit unter einen Hut bringen wollen. In diesem
Bereich braucht es neue Modelle von Teilzeitar
beit und insbesondere neue Modelle in der Sozial
politik: Die Zukunft liegt bei flexiblen Arbeitszeit
modellen, die den Frauen attraktive Arbeitsmög
lichkeiten bieten und für die Unternehmen
wirtschaftlich tragbar sind.

Wissensgesellschaft und Arbeitswelt im Produktionssektor schliessen sich nicht aus. Vieles, was vor
ein paar Jahren noch dem «vierten Sektor» zuge
ordnet wurde, ist heute auch in Klein- und Mittel
betrieben im Einsatz. Die Digitalisierung erfasste
alle Wirtschaftsbereiche, Automation und Roboter spielen nicht nur bei Weltkonzernen einewichtige Rolle. Wenn auf dem Weg zur Wissensgesellschaft tatsächlich die Produktionswirtschaft vergessen wurde, dann wäre angesichts des bestehenden und sich noch verschärfenden Fachkräftemangels heute eine gute Gelegenheit, Wissen und handwerkliches Können auf eine vergleichbare Stufe zu stellen.