«Heisser» Herbst vor «kaltem» Winter?

Gastkommentar von Martin Meyer, Präsident der Wirtschaftskammer Liechtenstein, im Wirtschaftregional am 07.10.2022

Wir stehen mit grosser Wahrscheinlichkeit vor einem kalten Winter. Nicht nur, was die Aussentemperatur angeht oder Eis und Schnee. Auch für die Innentemperatur stehen die Zeichen auf Kalt. Nicht allein die Raumtemperatur, die von der Regierung in einer Art Vorreiterrolle auf vergleichsweise eher ungemütliche 19 Grad festgelegt wurde. Da stehen noch ganz andere Herausforderungen bevor, wenn sich einstellt, was in den letzten Wochen alles über Energieversorgung und Knappheit an Gütern vorausgesagt worden ist. Ganz abgesehen davon, dass die Seite der Arbeitnehmer bereits angekündigt hat, erhebliche Lohnforderungen zu stellen, um die Teuerung auszugleichen.

Lieferengpässe und enorme Preissteigerungen brachten viele Unternehmen in der akuten Coronaphase in grosse Schwierigkeiten. Kaum waren diese Probleme zum Teil behoben, öffneten sich mit dem Ukraine-Krieg neue Problemfelder. Weil derzeit noch nicht abgeschätzt werden kann, wie die Energieversorgung über den Winter sichergestellt werden kann, wurden die Wirtschaftsprognosen nach unten korrigiert. Das schweizerische Staats sekretariat für Wirtschaft rechnet in seinem neuesten Wirtschaftsausblick damit, dass sich die Konjunktur im Herbst und Winter in der Schweiz (und damit auch in Liechtenstein) deutlich abkühlen wird. Die Wirtschaft wird nach dieser Prognose im laufenden Jahr ein geringeres Wachstum aufweisen, als noch in der Jahresmitte prognostiziert worden war. Und auch der Ausblick für das kommende Jahr sieht laut Staatssekretariat nicht rosig aus: Das Wachstum wird bei etwa 1,1 Prozent liegen, fast nur noch die Hälfte der Wachstumsprognose, die vor dem Ukraine-Krieg abgegeben worden war.

Zu schaffen machen den Unternehmen die massiv gestiegenen und voraussichtlich weiter steigenden Energiepreise. Doch die Preissitua tion ist nur eine Komponente der Unsicherheiten. Überall wird eine «Energiekrise in Europa» in die theoretischen Szenarien der kommenden Entwicklung miteinbezogen. Wie würden sich mögliche Gas kontingentierungen auf die Wirtschaft auswirken? Welche Auswirkungen hätten Probleme bei der sonst problemlosen Stromversorgung, beispielsweise wenn es zu Unterbrüchen kommen würde? In beiden Fällen müsste mit erheblichen negativen Auswirkungen für die Wirtschaft gerechnet werden – und damit für uns alle!

Die Energiepreise wirken sich in Preissteigerungen bei vielen Produkten aus. Die Inflation von aktuell 3,5 Prozent in der Schweiz und Liechtenstein hält auch das Staatssekretariat für Wirtschaft für aussergewöhnlich hoch. Ausserdem bleibt die Inflation nach Einschätzung dieser Experten hartnäckig auf hohem Niveau. Zwar prognostizieren sie für das kommende Jahr einen Rückgang, doch die Forderungen nach Ausgleich auf der Lohnseite sind bereits jetzt vorhanden. Der Interregionale Gewerkschaftsrat Bodensee hat kürzlich an einer Pressekonferenz in Schaan von einem «heissen Herbst» gesprochen und damit die Lohnforderungen angetippt. Der LANV forderte schon Mitte August: «Signifikante Lohnerhöhungen von drei bis fünf Prozent sind dringend notwendig!» Diese Forderung wurde mit zwei Begründungen unterlegt: Einerseits, um die Kaufkraft der Arbeitnehmer zu erhalten, und andererseits, um den sozialen Frieden zu wahren. Wenn man Preissteigerungen, Materialknappheit, Lieferkettenprobleme sowie die Lohnforderungen betrachtet, kommt auf die Unternehmen eine geballte Ladung an Herausforderungen zu. Nicht alle Unternehmen sind ohne Weiteres in der Lage, auf diese unterschiedlichen Anforderungen mit Reserven zu reagieren. Auch wenn die Nachfrage nach der akuten Coronaphase in den meisten Branchen gestiegen ist, hemmten auf der anderen Seite die Lieferprobleme und gestiegene Materialkosten die Entwicklung. Für die bevorstehende kalte Jahreszeit dürften die Energiepreise und die Energieversorgung die grössten Probleme verursachen. So verständlich die Forderungen nach Teuerungsausgleich und teilweise nach Lohnerhöhungen sind, auf längere Sicht ist niemandem geholfen, wenn einzelne Unternehmen ihre Tore schliessen müssen, weil dieser Aufwand nicht geleistet werden kann.

Vor diesem Hintergrund wird es am sinnvollsten sein, eine Auslegeordnung zu machen, was möglich und verkraftbar ist. Immer mit dem Gedanken im Hinterkopf, dass geopolitische Veränderungen und die damit verbundenen weltwirtschaftlichen Entwicklungen zusätzliche Unsicherheiten bergen könnten.