Aus­bildner werden von Wis­sens­trä­gern zu «Wissensmanagern»

Interview Französischpflicht, nur noch ein Berufsschulprofil und 120 Leistungsziele: Künftige KV-Lernende finden ein ganz anderes Umfeld vor als ihre Vorgänger. Die Reform ist berechtigt, doch wurden die Neuerungen zu spät kommuniziert, meinen Ivan Schurte und Cassandra Senti von der «100pro»-Berufsbildung.

Von Michael Wanger

«Volksblatt»: Die Schweizerische Konferenz der kaufmännischen Ausbildungs- und Prüfungsbranchen, kurz SKKAB, hat schon vor Längerem eine neue Reform angekündigt. Im August 2023 ist es nun so weit: Die ersten Lernenden starten mit der neuen Reform. Was ändert sich konkret?

Ivan Schurte: Grundsätzlich werden Bildungsverordnungen alle fünf Jahre einmal leicht überarbeitet. Gesamtrevisionen gibt es etwa alle zehn Jahre. In beiden Fällen kommen die verschiedenen Verbände und Gremien zusammen und diskutieren, inwiefern die schulischen und beruflichen Inhalte der Ausbildung des jeweiligen Berufs noch zeitgemäss sind. Bei der aktuellen Reform ist es aber so, dass es rund 20 Jahre her ist, seit der letzten gossen Reform. In dieser Zeit hat sich die Arbeitswelt sehr stark verändert: Vieles ist automatisiert worden, es gibt QR-Rechnungen, die Buchhaltung funktioniert anders und so weiter. Die Verbände haben daher beschlossen, das B- und E-Profil bei der KV-Ausbildungen aufzulösen. Künftig gibt es also nur noch eine kaufmännische Lehre FZ mit oder ohne Berufsmatura oder eine zweijährige Lehre zum Büroassistenten BA. Gleichzeitig müssen sich die Arbeitgeber neu ausrichten. So gibt es beispielsweise neu circa 120 Leistungsziele, welche die Lernenden während ihrer Lehrzeit erfüllen müssen.
Cassandra Senti: Mit der aktuellen Reform liegen wir wieder bei rund 120 Leistungszielen. So viele waren es früher schon einmal, aber seit der letzten Revision waren es etwa 20 Leistungsziele, je nach Branche etwas unterschiedlich. Hinzu kommt, dass es in der Berufsschule neu keine Fächer im engeren Sinne mehr geben wird, sondern verschiedene Handlungskompetenzbereiche. Wenn einer dieser Kompetenzbereiche beispielsweise den Umgang mit Kunden umfasst, übernimmt ein Teil der Deutschlehrer, ein anderer der Englischlehrer und eventuell nochmals einen Teil der Wirtschaftslehrer. Das heisst, es gibt keinen Deutsch- oder Englischunterricht im altbekannten Stil mehr. Das wird für die Lehrpersonen und die Lernenden gleichermassen eine grosse Umstellung.

Was bedeutet das für die Lehrbetriebe?

Schurte: Sie müssen sich Gedanken machen, wie sie alle diese etwa 120 Leistungsziele abdecken können. Es ist Stand jetzt noch offen, wie sie das bewerkstelligen sollen – vor allem Kleinunternehmen. Berufsschulen hingegen haben schon damit begonnen, den Lehrplan auf der Grundlage dieser Ziele aufzubauen. Die Uhr tickt: Bis im August müssen Betriebe startklar sein, denn dann geht es los. Das zieht allerdings einen Rattenschwanz nach sich. Dieser beginnt mit der Rekrutierung neuer Lernender. Die meisten Unternehmen haben ihren Nachwuchs bereits unter Vertrag genommen. Dabei wissen weder sie noch die Jugendlichen, welche konkreten Voraussetzungen sie in die Lehre mitbringen müssen. Neu ist zum Beispiel, dass Französisch ein Pflichtfach ist.
Senti: Genauer gesagt gibt es zwei Wahlpflichtfächer, von denen beide Französisch beinhalten. Nur das Niveau unterscheidet sich. Die etwas einfachere Variante in Bezug auf das Sprachniveau ist das Wahlpflichtfach «Individuelle Projektarbeit», in dem es hauptsächlich um die Kommunikation geht. Die Reform strebt das Niveau A2 beim Schreiben und B1 beim Sprechen und Verstehen an. Beim zweiten Wahlpflichtfach handelt es sich um das Fach «zweite Fremdsprache», die Französisch ist. Hier beträgt das Niveau meines Wissens B1. Kurzum: Französisch wird künftig Pflicht für alle KV-Lernenden. Wer das nicht möchte, kann alternativ eine Lehre als Büroassistent oder -assistentin BA antreten. Die Meinungen sind aber gespalten. Die einen Lehrpersonen sagen, dass Lernende künftig einfach mehr lernen müssen, während andere befürchten, dass 70 Prozent der heutigen B-Profil-Lernenden die Lehre nach neuem Muster nicht mehr bestehen würden.

Zusammengefasst bringen die Reformen also welche Probleme mit sich?

Schurte: Betriebe haben vielleicht nicht die richtigen Kandidaten eingestellt, sie sind nicht auf die Neuerungen vorbereitet und haben abzüglich der Ferien nur noch vier Monate Zeit, Vorkehrungen zu treffen. Aus diesem Grund haben wir schon erste Anfragen erhalten, ob wir Betriebe mit unserem Betriebscoaching bei der Umsetzung der Reform unterstützen und begleiten können.

Und können Sie die Unternehmen in dieser Sache unterstützen und begleiten?

Schurte: Ja. Wir haben das Glück, dass wir ab Mai einen zusätzlichen Arbeitsplatz besetzen können. Wir sind also bereit.
Senti: Man muss sich aber bewusst sein, dass wir hier nur von der Branche Dienstleistungen und Administration sprechen. Sicher gibt es Vorgaben, die alle Branchen erfüllen müssen, aber die Banken- oder Versicherungsbranche haben von der Betrieblichen Seite teilweise natürlich andere Anforderungen oder Inhalte als wir in der Branche D&A. In der Schule werden die Branchen aber nicht unterschieden. Alle KV-Lernenden gehen gemeinsam in die Berufsschule. Demnach können wir nicht allen Betrieben gleich gut helfen. Das Ganze soll aber kein Vorwurf an Verbände wie etwa die IGKG sein. Ich weiss nämlich, dass sie alles daran setzen, Fragen zu beantworten und an Informationen zu kommen und dem Ausbildungsbetrieb so gut sie können zu helfen.
Schurte: Das gilt auch für das Amt für Berufsbildung (ABB). Es macht trotz der widrigen Umstände einen tollen Job und informiert uns und die Betriebe, sobald es Neuigkeiten gibt.

Wieso ist der Zeitplan so eng?

Schurte: Der kaufmännische Beruf besteht aus rund 19 Verbänden. Er ist einer der grösste Berufe der Schweiz. Dazu gehören Branchen wie Banken, Treuhand, Verwaltung und dergleichen. Diese Verbände mussten sich erst finden und abschätzen, wie die Arbeitswelt in der Zukunft aussieht. Als dies feststand, entbrannte ein Streit um Grundsatzfragen wie etwa die Verankerung einer Zweitsprache: Soll dies mit Englisch eine Fremdsprache oder mit Französisch eine Schweizer Landessprache sein? All das bremste die geplante Reform aus. Zudem kam, dass aufgrund der Coronakrise alles sehr lange stillstand. So kam es, dass sie Anfang 2021 noch nicht einsatzbereit war. Tatsächlich sind sich die Verbände auch heute noch nicht bei Allem einig. Der Reformvorschlag erreichte nur eine knappe Mehrheit. Im Idealfall wäre es so gewesen, dass die Reform im Januar präsentiert wird und sie dann im August des nächsten Jahres startet. Für die Betriebe beginnt das Lehrjahr nämlich ein Jahr vor dem ersten Schultag – und zwar mit der Rekrutierung von Lernenden. Das ist nun aber anders. Sowohl beim Beruf Kaufmann/Kauffrau FZ als auch beim Büroassistent/Büroassistentin BA haben sich die Anforderungen verändert. So bleibt also Schülern, die kaum Französisch sprechen, nur die Möglichkeit, die Ausbildung zum Büroassistent/in BA zu machen oder einen Intensivvorbereitungskurs zu besuchen.
Senti: Hier stehen wir genau wieder vor dem Problem, das ich vorhin erwähnt habe: Die einen Lehrpersonen meinen, dass sprachlich weniger begabte Lernende die FZ-Lehre mit mehr Aufwand durchaus bewältigen können, während die anderen davon abraten. Aber was führt zu dieser Annahme? Bislang gibt es ja noch keine Erfahrungswerte. Bei der letzten grossen Reform im Jahr 2003 gab es zu diesem Zweck Pilotklassen, welche die revidierte Bildungsverordnung zum Vorbild nahmen. Das gibt es dieses Mal – aus welchem Grund auch immer – nicht.

Wird Französisch also zur Fallnote? Sprich, wer das Fach mit einer negativen Note abschliesst, besteht die Lehre nicht?

Schurte: Nein, das ist kein KO-Kriterium.

Sie haben vorhin angesprochen, dass die Lehrbetriebe alle 120 Leistungsziele abdecken müssen. Tun sich Grossbetriebe in diesem Punkt leichter als Kleinbetriebe?

Schurte: Das ist unsere grosse Baustelle. Denn wenn ich beispielsweise an grosse Unternehmen wie die LGT oder die Hilti denke, habe ich keine Bedenken. Dort gibt es Berufsbildner und -bildnerinnen, die sich darum kümmern werden. Bei kleineren Betrieben ist das schon eher ein Problem, zumal die Ausbildner ihre Aufgabe oftmals neben dem Tagesgeschäft wahrnehmen. Sie finden die Zeit schlichtweg nicht, sich mit den Leistungszielen zu befassen und diese später auch mit ihren Lernenden umzusetzen.
Senti: Zu den neuen Leistungszielen kommen neu circa 60 Praxisaufträge. Solche gibt es je nach Branche schon heute, aber sie lassen sich an einer Hand abzählen. Stand jetzt wissen wir noch nicht, ob es sich bei diesen Aufträgen um eine Empfehlung oder um eine Pflicht handelt. Heute haben die Lernenden pro Praxisauftrag 15 Stunden Zeit. Bislang war es so, dass sich die Lernenden diese Zeit während der Arbeit nehmen durften. Das wird jetzt wohl nicht mehr der Fall sein. Hinzu kommt, dass Berufsbildner diese Praxisaufträge wie erwähnt auch begleiten müssen.
Schurte: Beim Detailhandel sind Änderungen markanter. Auch ein gewisses Fachwissen und Infrastruktur setzen die neuen Anforderungen voraus. Lernende müssen ihre Praxisaufträge in einem speziellen Computerprogramm dokumentieren. Das heisst, dass die Jugendlichen in ihrem Betrieb künftig einen Computer-Arbeitsplatz brauchen. In gewissen Branchen im Detailhandel ist das nicht selbstverständlich. Damit aber noch nicht genug, denn auch das ABB stellt dieses Jahr auf digitale Lehrverträge um. Künftig sind diese also nicht mehr physisch, sondern müssen digital von Stelle zu Stelle weitergereicht werden, bis sie das Amt freigeben kann. Eine weitere Änderung, an die sich die Betriebe gewöhnen müssen. Wir kritisieren aber einmal mehr nicht die Ziele, sondern die Vorlaufszeit.

Können Kleinbetriebe von der Vorarbeit der Grossbetriebe profitieren?

Schurte: Ich denke nicht, dass Grossunternehmen die Arbeit für kleine machen. Jede Firma muss für sich beantworten, wie sie die Leistungsziele und Aufgaben umsetzen kann.
Senti: Das wäre ohnehin schwierig, zumal jedes Unternehmen – auch wenn es sich um dieselbe Branche handelt – andere Abteilungen und Aufgabenbereiche hat. Die Massnahmen und Leistungsziele liessen sich also in den meisten Fällen nicht einmal annähernd auf andere Betriebe übertragen.

Gelten die neuen Regeln auch für Lernende, die sich bereits in Ausbildung befinden?

Senti: Nein, sie gelten erst für diejenigen, die im August 2023 ihre Lehre starten. Das erste Qualifikationsverfahren nach dem neuen Muster findet also 2026 statt.

Welche Folgen hat es für die Berufswahl, dass sich die KV-Lehre so stark verändert?

Senti: Das kann ich nicht sagen. Es ist zwar möglich, nach der Lehre als Büroassistentin die Lehre als Kauffrau FZ in verkürzter Form anzuhängen, aber ohne gute Französischkenntnisse ins 2. Lehrjahr mit einem vorgegebenen Sprachniveau einzusteigen, wird wahrscheinlich für viele schwer.
Schurte: Ich möchte an dieser Stelle daran erinnern, dass ein BA keine schlechtere Ausbildung ist als ein FZ. Nur sind die Aussichten nach der Lehre etwas anders. Es gibt aber Arbeitsplätze, bei denen ein Abschluss mit Berufsattest gefragt ist. Dazu gehören Arbeitsplätze, die praktisch orientiert sind – also viele sogenannte Repetivarbeiten beinhalten. Die Frage ist nur, ob es auf dem heimischen Markt genügend Stellen für Büroassistenten gibt.
Senti: Das grössere Problem wird wohl, dass viele Leute denken, dass die eine Ausbildung besser ist als die andere. Ein solcher Vorwurf hielt sich auch lange bei den Berufsschulprofilen: Das B-Profil sei schlechter als das E-Profil. Dabei fehlte bei ersterem Profil nur das Fach Französisch und einzelne Themen im Fach W&G. Der Rest sowie das betriebliche Qualifikationsverfahren waren dasselbe.

Wie schaffen Sie diesen Vorwurf aus der Welt?

Schurte: Indem wir sagen, dass es die Profile nicht mehr gibt. Das wird sicher einiges an Aufklärungsarbeit mit sich bringen, aber das sind alte Zöpfe, die wir abschneiden wollen und müssen. Viel wichtiger ist es aber, dass wir den Betrieben und Berufsbildnern klar machen, dass sich ihre Stellung dank der Reform nun verändert hat. Früher waren Ausbildner Wissensträger, künftig werden sie Wissensmanager sein. Sie müssen nicht nur mehr Fragen von ihren Lernenden beantworten, sondern ihnen im Zusammenhang mit den Leistungszielen auch über die Schultern schauen und ihnen Aufträge erteilen. Bei anderen Berufen ist das schon lange Alltag, nur bei den kaufmännischen noch nicht.

Stehen auch in anderen Berufsfeldern Reformen an?

Schurte: Das ist ein laufender Prozess. Der Detailhandel, der in der Schweiz gemeinsam mit dem KV den grössten Berufszweig darstellt, hat gerade eine Revision hinter sich. Diese Unternehmen mussten wir zeitgleich auf die Umstellung vorbereiten. Bei den Mem-Berufen, also etwa Konstrukteur, Polymechaniker und Automatiker stehen die Reformen erst noch an. Diese dürften ebenfalls einen Aufschrei nach sich ziehen. Hier haben wir allerdings das Glück, dass es in dieser Branche sehr viele Grossbetriebe gibt, die sich mit den

Neuerungen nicht schwer tun werden.

Welche Erfahrungen haben Sie mit dem Beispiel Detailhandel gesammelt?

Schurte: Die Detailhändler sind oftmals mit dem Tagesgeschäft beschäftigt. Oftmals reagieren Berufsbildner verdutzt, wenn Lernende mit entsprechend neuen Schulaufträgen auf sie zukommen. Früher wussten Berufsbildner, was ihre Lernenden können müssen, mit der Reform tun sie dies nicht mehr. Ein aktuelles Beispiel: Ein Lernender musste vor Kurzem für die Berufsschule ein Video zum Wareneingang drehen und schneiden. Sein Berufsbildner wusste weder, welche Kriterien die Aufnahme erfüllen muss, noch wie er sie bewerten muss. Alle Beteiligten befanden das Video für hervorragend, in der Schule reichte es aber nur für die Note 4,1. Nun ist es aber so, dass der Ausbildner die Kriterien auf einem Computerprogramm hätte nachlesen können, für das er von der Berufsschule die Zugangsdaten erhalten hatte. Dennoch wehrt er sich vehement gegen diese neuartigen Aufträge. Damit alles sauber läuft, müssen sich die Lehrlingsverantwortlichen bewusst sein, dass auch sie ihren Beitrag leisten müssen. Immerhin müssen KV-Lernende während ihrer Ausbildung über 60 solche Aufgaben umsetzen.

Welche Rolle hat «100pro» in dieser Sache?

Schurte: Wir helfen den Unternehmen dabei, die Reformen umzusetzen und die Lernenden zu begleiten. Das Konzept wird mit uns gemeinsam ausgearbeitet. Unser Auftrag ist es, unsere Partnerbetriebe zu informieren. Die Kür ist, auf Anfragen vorbereitet zu sein. Aufklärungsarbeit leistet das ABB. Sie informiert alle Betriebe, die einen Lehrvertrag abgeschlossen haben.