Ob Hausbau oder Strassenbau, ob Spenglerei oder Sanitärinstallation, ob Schreiner oder Zimmermann, ob Beratung für Brillen oder Computerkauf – in jeder Branche arbeiten in Liechtenstein gut ausgebildete Fachleute. Zumeist ausgebildet in einer Berufslehre nach dem dualen Ausbildungssystem mit Berufsschule und Lehrstelle, später eventuell noch Weiterbildungen in berufsspezifischen Fachkursen. Jedes Jahr zeigt
die Lehrabschlussfeier des Gewerbes, wenn die jungen Berufsleute ihr Diplom erhalten, wie reichhaltig das Angebot an Berufsmöglichkeiten ist.
Dieser kurze Überblick könnte zur Annahme verführen, alles sei in bester Ordnung. Ist es aber nicht, denn der Mangel an qualifizierten Arbeitskräften machte auch um das Gewerbe keinen Bogen. Vielmehr suchen fast alle gewerblichen Unternehmen qualifizierte Arbeitskräfte. Die Bevölkerungsentwicklung hinterlässt nicht nur bei der AHV deutliche Spuren, die sich noch verschärfen werden, sondern ebenso bei der Rekrutierung von Arbeitskräften: Es gehen mehr Arbeitskräfte in den wohlverdienten Ruhestand, als Schulabgänger eine Berufslehre beginnen. Sie füllen die frei werdenden Arbeitsplätze nur teilweise aus.
Zu dieser Bevölkerungsentwicklung kommt hinzu, dass Eltern ihren Nachkommen zunehmend eine akademische Ausbildung empfehlen. Je mehr Schülerinnen und Schüler ein Studium anvisieren oder aufnehmen, umso mehr fehlen Lernende für die Berufsausbildung. Um Missverständnissen vorzubeugen: Damit soll keineswegs das Studium gegen die Berufslehre ausgespielt werden, denn wir brauchen auch auf der akademischen Ebene gut ausgebildete Führungskräfte in der Wirtschaft, Anwälte, Ärzte oder Architekten. Die Erfahrung aber zeigt, dass nicht alle Gymnasiastinnen und Gymnasiasten nach der Matura
eine akademische Laufbahn beschreiten oder dass etliche das Studium vorzeitig abbrechen.
Dafür können sehr unterschiedliche Gründe ausschlaggebend sein. Möglicherweise hat das anvisierte Berufsfeld nicht den Erwartungen entsprochen, möglicherweise stand der Wunsch des Studiums im Vordergrund, weil eine universitäre Ausbildung in der Gesellschaft mehr Prestige als eine Berufslehre geniesst.
Die Wirtschaftskammer hat in den vergangenen Jahren verschiedene Massnahmen getroffen, um die Berufslehre aufzuwerten. Den Schülerinnen und Schülern wird im Rahmen der Berufscheck-Woche die gewerbliche Berufswelt realistisch gezeigt. Mit «100pro!» hat die Wirtschaftskammer eine Institution geschaffen, die mit ihren Angeboten sowohl den Lehrlingen als auch den Lehrbetrieben entgegenkommt. Weil sich auch die gewerbliche Wirtschaft zunehmend spezialisiert, hätten ohne Verbundlehre einige Berufe gar nicht mehr für eine Ausbildung angeboten werden können. Unsere Überzeugung ist, dass wir einen zukunftsgerichteten Weg eingeschlagen haben. Die «Agenda Werkplatz 2025plus», konzipiert als Zukunftsstrategie für die gewerbliche Wirtschaft, weist deshalb der Berufsbildung und der beruflichen
Weiterbildung einen wichtigen Stellenwert zu.
Aber wir sind uns bewusst, dass es noch weitere Anstrengungen braucht. Ein Blick über unsere
Landesgrenzen zeigt, wie andere Länder, Bundesländer oder Regionen die Notwendigkeit erkannt
haben, die Berufsausbildung aufzuwerten. Zum Beispiel plant der Freistaat Bayern, die Berufsausbildung bis zur Meisterprüfung kostenlos anzubieten, vergleichbar mit den kostenlosen Studienplätzen. Ein solches Modell halten wir auch für Liechtenstein für denkbar. Damit würde die Berufsausbildung aufgewertet, aber auch die Wettbewerbsfähigkeit unseres Gewerbes gegenüber den gewerblichen Unternehmen in der unmittelbaren Nachbarschaft gestärkt. Nicht zuletzt könnte damit die Berufsbildung, wenn es um das gesellschaftliche Ansehen und Prestige geht, eine Aufwertung gegenüber einer akademischen Ausbildung erfahren. Vorhanden ist bereits die Möglichkeit, über eine Berufsausbildung eine höhere Fachhochschule oder gar eine Universität zu absolvieren. Gerade solche Fachkräfte, die
einen Beruf von Grund auf gelernt und sich dann auf verschiedenen Ebenen weitergebildet haben,
braucht unsere Wirtschaft. Einfachere Arbeiten werden in Zukunft noch stärker als bisher von Maschinen, Apparaten oder Robotern erledigt. Aber an der Spitze braucht es helle und gut ausgebildete Köpfe, die diese Hilfsmittel produktiv und gezielt einzusetzen wissen.
Gastkommentar von Dr. Martin Meyer, Präsident der Wirtschaftskammer Liechtenstein, im Wirtschaftregional 27.10.23