Lohnverhandlungen stehen unter besonderen Vorzeichen

Der Streit zwischen der Deutschen Bahn und der Lokführergewerkschaft über das Ausmass von Lohnanpassungen und die Streiks der Lokführer zur Untermauerung ihrer Forderungen kündigten an, dass nun überall die Frage nach Lohnerhöhungen akut wird. Im Herbst jeweils treffen die Forderungen der Arbeitnehmerseite auf die Angebote der Arbeitgeber. Dass zwischen Forderungen und Angeboten meistens eine Lücke klafft, liegt in der Natur der Sache. In den Verhandlungen versuchen die Sozialpartner, die sich ihrer Verantwortung um das Wohl des Landes, der Wirtschaft sowie der Arbeitnehmer und Arbeitgeber bewusst sind, diese Lücke zu schliessen. Wenn sich die Verhandlungspartner einigen, liegt zumeist ein Kompromiss vor, mit dem beide Seiten leben können.

Dieses Jahr stehen die Lohnverhandlungen unter besonderen Vorzeichen, geprägt durch die anhaltende Pandemiesituation. Gesamthaft gesehen, ist die Wirtschaft bisher gut über die Runden gekommen, womit Verständnis für die Forderung nach Lohnerhöhungen aufgebracht werden kann. Allerdings zeigen sich Unterschiede in den verschiedenen Branchen, was bei den Verhandlungen berücksichtigt werden muss. Allgemein gültige Forderungen über alle Branchen hinweg sind daher nicht realistisch, sondern notwendig ist eine differenzierte Betrachtungsweise. Zudem darf nicht vergessen werden, dass die Pandemie noch nicht beendet ist, sondern auf absehbare Zeit immer wieder mit Einschränkungen für Wirtschaft und Gesellschaft gerechnet werden muss. Solche Unwägbarkeiten müssen bei den Verhandlungen miteinberechnet werden. Auch wenn Verständnis für Lohnanpassungen und den Ausgleich der leicht angezogenen Teuerung aufgebracht werden kann, nicht alle Branchen befinden sich schon auf dem Niveau wie vor der Pandemie.

Die Gewerkschaften in der Schweiz haben bereits argumentiert, die Arbeitnehmer müssten mit Lohnerhöhungen und Teuerungsausgleich am Wirtschaftsaufschwung beteiligt werden. Wenn die Lohnempfänger mehr Geld zur Verfügung hätten, werde die Kaufkraft gestärkt, womit die Krise schneller bewältigt werden könne. Auch wenn dieser Argumentation eine gewisse Logik nicht abgesprochen werden kann, lässt sie doch etwas Entscheidendes auf der Seite: Der Aufschwung ist noch nicht gefestigt, Rückschläge aufgrund von Covid-Mutationen sind durchaus möglich. Vorsicht ist also angebracht, die Unternehmen dürfen nicht zu stark gefordert werden, weil sonst die Gefahr von Insolvenzen oder Geschäftsaufgaben droht.

Bei den Lohnverhandlungen für 2022 wird vor allem im Mittelpunkt stehen, was den Unternehmen in der aktuell immer noch unsicheren Zeit zugemutet werden kann und welche Ansprüche der Arbeitnehmer gerechtfertigt sind. Angesichts der Situation, dass nicht alle Branchen mit den gleichen Problemen zu kämpfen haben und nicht alle Unternehmen innerhalb der Branchen vor vergleichbaren Herausforderungen stehen, braucht es von beiden Seiten eine pragmatische Flexibilität. Das Gewerbe ist sich bewusst, dass für gute und zuverlässige Arbeit eine entsprechende Entlohnung gerechtfertigt ist. Dieses Bewusstsein kommt insbesondere zum Ausdruck bei den stetigen Bemühungen, jegliches Lohndumping zu unterbinden. Gleichzeitig kann aus diesem Bewusstsein und aufgrund der speziellen Covid-Situation abgeleitet werden, dass individuelle Lohnanpassungen zielführender als generelle Erhöhungen sein werden. Ein Grundkonsens für solche Lösungen liegt bereits mit den zahlreichen Gesamtarbeitsverträgen vor, die zwischen den Sozialpartnern zum gegenseitigen Vorteil abgeschlossen wurden und die sich in der Vergangenheit bewährt haben.

Wie Beispiele aus anderen Ländern immer wieder zeigen, führen extreme Positionen selten zum erhofften Erfolg, sondern bereiten den Weg vor für Verhärtungen bei anstehenden Verhandlungen. Die Wirtschaftskammer schätzt den sozialen Frieden in unserem Land als bedeutende Errungenschaft aus der Vergangenheit ein. Diese Errungenschaft und das Zusammenspiel der Sozialpartner, die bei Verhandlungen um eine ausgewogene und beide Seiten zufriedenstellende Lösung ringen, gilt es bei den Lohnverhandlungen für 2022 und selbstverständlich auch für die weitere Zukunft zu bewahren und zu verteidigen.

Wirtschaftregional am 15. Oktober 2021, Gastkommentar