Kritik an Lehrstellen-Stichtag 1. November. Wo bleibt die Moral?

Handlungsbedarf Jedes Jahr warten Hunderte Schüler gebannt auf den 1. November, denn dann beginnen Grossbetriebe die Zu- und Absagen für ihreLehrstellen zu erteilen. Ein Modell, dass Jugendliche unnötig unter Druck setzt, findet Ivan Schurte, Bereichsleiter «100pro!» bei der Wirtschaftskammer.

«Volksblatt»: Herr Schurte, was stört Sie am «Gentleman’s Agreement» zwischen mehreren Verbänden, Lehrstellen ab dem 1. November zu vergeben?
Ivan Schurte: Ich beginne mit den positiven Aspekten, denn da kann ich mich kurz halten: Das schönste am 1. November ist, dass er vorbei ist.

Wieso?

Stellen Sie sich vor, Paare dürften nur an einem Tag im Jahr heiraten. Das würde automatisch zu Komplikationen
führen. In Bezug auf den «Zusagetag 1. November» gibt es also mehrere Punkte, auf die ich gerne eingehen würde. Da wäre erst einmal der historische Hintergrund, warum es diese Übereinkunft zwischen der Arbeitsgruppe Industrielehre
(AGIL), der Liechtensteinischen Industrie- und Handelskammer (LIHK) sowie der Treuhandkammer und dem Bankenverband überhaupt gibt. Dann geht es mir um den emotionalen Aspekt als Vater eines Sohnes, der mitten in der Berufswahl steckt. Und natürlich möchte ich auch aufzeigen, was der 1. November für Schüler und Lehrbetriebe
bedeutet.

Dann beginnen wir doch mal bei der Geschichte. Wie ist die Idee zu dieser Übereinkunft entstanden?

Das Ganze begann vor rund 20 Jahren. Die Industriebetriebe im Land hatten Schwierigkeiten, alle guten und durchschnittlichen Schüler zu einer Schnupperlehre einzuladen – hauptsächlich bei den Berufen Konstrukteur
und Polymechaniker. Damals war es so, dass die Grossunternehmen ihre Bewerber erst «sichten » wollten, sodass sowohl sie als auch die Schüler sich ein Bild machen konnten. Der 1. November verschaffte den Unternehmen somit
Zeit, dieses Modell so gut wie möglich umzusetzen.

Warum November? Hätte es die Unternehmen nicht noch mehr entlastet, wenn sie diesen Stichtag nach hinten verschoben hätten?

Diese Idee gab es tatsächlich: Lehrer und Schüler brachten einmal den Vorschlag, den 1. März als Zusagetag
festzulegen. Da Liechtensteiner Unternehmen auch auf der Schweizer Seite rekrutieren, wäre März eine noch grössere Reduktion dieser Sperre. Allerdings haben sich viele Mitglieder der teilnehmenden Verbände gegen diese Idee ausgesprochen. Heute steht ein beachtlicher Teil dieser Mitglieder nicht einmal mehr hinter dem 1. November. Dieser
Stichtag ist einfach moralisch verwerflich. Tatsächlich ist es sogar möglich, noch im Monat des Lehrbeginns
einen Lernenden einzustellen. Ganze neun Monate nach dem Stichtag im November. Solche Fälle gab es bei der «100pro!»-Berufsbildung bereits.

Vor etwa 20 Jahren war es so, dass sich Grossunternehmen schon früh die guten Schüler geschnappt haben, sodass den anderen Betrieben «nur» noch durchschnittliche Bewerber blieben. Hat ein gemeinsamer Zusagetag also nicht auch seine Vorteile?

Die Übereinkunft gilt nur für Banken, Treuhandunternehmen und grosse Industriebetriebe. Die restlichen Unternehmen haben freie Hand. Wir, die «100pro!»-Berufsbildung, haben beispielsweise im August einem Polymechaniker zugesagt.
Er hat aber von sich aus gesagt, dass ihm sein Favorit erst am 2. November Bescheid geben wird. Das ist aus unserer Sicht kein Problem: Wir haben ihm diesen «Freipass» gewährt, sodass er sich denjenigen Lehrbetrieb aussuchen kann, der ihm auch am besten passt. Das ist Fairplay. Schliesslich gibt es auch bei der Berufswahl einen Markt, der leben muss.

Wie stehen Sie dem 1. November aus privater Sicht, also als Vater, gegenüber?

Hier kommt wieder das Fairplay ins Spiel. Man muss sich vorstellen, dass am 2. November alle Schüler in der Schule sitzen. Sie warten. Das setzt sie gewaltig unter Druck. Bei meinem Sohn war es so, dass ihm bereits vorher ein Betrieb zugesagt hatte. Er konnte somit entspannt im Unterricht sitzen. Bei zwei seiner Kameraden habe das Handy unaufhörlich geklingelt, bei den anderen nicht. Wo liegt da die Moral? Die einen dürfen sich freuen, die anderen
gehen leer aus und jeder in der Klasse bekommt davon Wind. Hinzu kommt, dass es auch schnell die Runde macht, wer von welcher Firma angerufen wurde. Verzichtet der- oder diejenige auf die betreffende Lehrstelle, weiss «der Nächste in der Reihe», dass er nur die zweite Wahl war. Ich frage mich, warum die Betriebe nicht schon am 1. November anrufen. Dann ist ein Feiertag und die Schüler sind aller Wahrscheinlichkeit noch zu Hause. Immerhin sollte die Zusage Teil eines vertraulichen Prozesses zwischen ihnen und dem Betrieb sein. Des Weiteren könnten sich die Schüler zu Hause sogleich mit ihren Eltern beraten.

Ist es nicht ohnehin so, dass die Betriebe ab dem 1. November zusagen und nicht genau an diesem Datum respektive dem ersten Arbeitstag danach?

Ja. Das geht gerne vergessen. Dabei kommunizieren alle Verbände, dass der 1. November nur der Starttag und nicht der Endtag ist. Derzeit sind nämlich noch rund 280 Lehrstellen im Land offen.

Was wäre denn Ihrer Meinung nach die Lösung für das Problem?

Die Unternehmen könnten Bewerbungen beispielsweise erst ab dem 1. September annehmen und nicht schon im August. Dann soll der Markt seine Arbeit tun: Wenn ein Betrieb einen passenden Bewerber findet, muss er nicht lange warten, sondern soll direkt zusagen. Sonst hält er die Jugendlichen unnötig hin. Ich möchte das anhand eines Rechenbeispiels aufzeigen: Ich schreibe eine Lehrstelle für einen Informatiker aus. Dann bekomme ich 35
Bewerbungen. 15 davon fallen aus verschiedenen Gründen schon mal weg, weitere zehn sagen mir ab. Dann sind es noch zehn Bewerber. Fünf lade ich zu einem Vorstellungsgespräch ein, von denen drei schnuppern kommen. Wenn ich
jetzt wieder fünf Schülern absage, kann ich mir die Verbleibenden «warmhalten». Es kann gut sein, dass zu diesem Zeitpunkt erst Anfang Oktober ist. Das heisst, dass ich die fünf Favoriten einen Monat warten lassen muss. Das ist doch nicht fair? Diese Wartezeit könnten Betriebe aushebeln, indem sie die Bewerbungsfrist eben erst später ansetzen und auch schneller entscheiden. Auch aus Sicht der Schüler übt dieses Vorgehen unnötigen Druck aus: Wer bei seinem Wunschbetrieb schnuppert, muss sich zur Sicherheit noch weitere Betriebe ansehen, weil er ja nicht weiss, ob er die Stelle bekommen wird oder nicht.

Demnach verschenkt diese Frist wertvolle Zeit?

Genau. Nehmen wir an, dass Anfang November bereits alle Stellen eines konkreten Berufs vergeben sind, müssen sich alle, die leer ausgegangen sind, neu orientieren. Das braucht Zeit. Wann sollen sie das tun? Es haben nicht alle einen Plan B. Mich stört aber noch ganz etwas anderes.

Was denn?

Gewisse Grossbetriebe laden ihre Bewerber in der engeren Auswahl und deren Eltern zu einem Infoabend mit Apéro ein. Abgesehen davon, dass es niemanden etwas angeht, wer sich beim betreffenden Betrieb beworben hat, setzt das die Schüler nur noch mehr unter Druck. So wissen nämlich alle, wer noch mit ihnen im Rennen ist. Gleichzeitig
schmieren die Unternehmen den Eltern Honig ums Maul. Das geht einfach nicht.

Wieso halten AGIL, LIHK und Co. Ihrer Meinung nach an ihrem «Gentleman’s Agreement» fest? Diese Kritik wird ihnen sicher schon einmal zu Ohren gekommen sein.

Einerseits hat das sicher mit der Vergangenheit zu tun, andererseits stehen sicher noch viele Unternehmen dahinter. Wie eingangs erwähnt, ist diese Übereinkunft inzwischen etwa 20 Jahre alt. Das war damals ganz ein neues Konzept. Die AGIL wurde damals von der Treuhandkammer und dem Bankenverband unterstützt. Das ist an und für sich eine
schöne Sache. Es kommt nicht oft vor, dass mehrere Verbände miteinander arbeiten. Es ist auch sinnvoll, die Lehrstellen nicht zu früh zu besetzen – etwa in der Schweiz, wo manche Stellen bereits im August vergeben werden. Ich glaube jedoch, dass sich die Zeiten geändert haben. Damals sah die Berufswahl noch ganz anders aus. Heute haben wir
Instrumente wie den «Berufscheck» oder die «NextStep»-Berufsschau. Achtklässler sind heute viel besser
auf die Lehrzeit vorbereitet als noch vor wenigen Jahren.

Haben Sie dieses Thema schon einmal mit den betreffenden Verbänden angesprochen?

Bislang nicht, nur intern. Hierfür muss ich nochmals kurz ausholen: Ich bin Mitbegründer der AGIL. Ich war aber schon immer gegen den «Zusagetag 1. November». Es gab aber einen demokratischen Mehrheitsbeschluss, was für mich in Ordnung war. Ich ging sogar mit auf eine «Werbetour» für diesen Stichtag. Die teilnehmenden Verbände wollten
noch andere ins Boot holen – auch über der Grenze. Die Schweizer erteilten jedoch eine Absage, obwohl es manche Unternehmen im Rheintal mal kurz versuchten. Um wieder zu Ihrer Frage zurückzukommen, es gab schon damals Funktionäre, die gegen dieses Konzept waren. Aber eben, es handelte sich um einen demokratischen Beschluss.

Wieso behielten Sie Ihre Kritik für sich?

Es war einfach noch nicht der richtige Zeitpunkt dafür. Dieses Jahr sah ich die Problematik aber von einer ganz neuen Seite: aus der Sicht der Eltern. Ich wartete mit meiner Kritik aber bewusst bis nach dem 1. November, denn jetzt ist alles verdaut – Zusagen wie Absagen. Und natürlich wollte ich meine Aussagen intern abstimmen, sodass ich die Wirtschaftskammer mit gutem Gewissen nach aussen repräsentieren kann.

Eine Lösung haben Sie ja bereits vorgeschlagen. Wie könnte man diese anstossen?

Indem man die Schweigenden zum Reden bringt. Viele, die Teil dieses «Gentleman’s Agreements» sind, teilen
meine Ansicht. Natürlich dürfen auch Lehrmeister auf mich zukommen, die dieses Jahr keinen Lehrling finden konnten, Eltern, die den Druck auf ihre Kinder wahrnehmen, oder auch Lehrpersonen, die am 1. November mehr weinende als strahlende Schüler im Unterricht hatten. Zu guter Letzt müssen auch die Medien ihren Teil zu diesem Wandel beitragen. Radio und Zeitungen bewarben den Zusagetag bislang kommentarlos.

VON MICHAEL WANGER, Bild Michael Zanghellini