Jürgen Nigg: «Eine Normalität wie vor Corona ist jedoch in weiter Ferne»

Auch das Gewerbe in Liechtenstein hat zu kämpfen. Die Pandemie hat für Einbussen gesorgt, die auch kaum wieder aufgeholt werden können.
Viel Arbeit für die Wirtschaftskammer, deren Geschäftsführer Jürgen Nigg, bereits über Weg aus der Krise nachdenkt.

VON HOLGER FRANKE «Volksblatt»: Herr Nigg, wir alle erleben ein äusserst herausforderndes Jahr. Wenn Sie als Geschäftsführer der Wirtschaftskammer auf das hei-mische Gewerbe blicken, was geht Ihnen dann derzeit durch den Kopf? Jürgen Nigg: Das Coronavirus und die damit zusammenhängenden Massnahmen und Auswirkungen – auf wirtschaftlicher und privater Ebene – beschäftigt das Gewerbe seit Monaten und es scheint im Moment kein Ende in Sicht. Die Branchen sind unterschiedlich stark betroffen. Während gewisse Betriebe und Branchen noch mit den Folgen vom «Lockdown» und den gültigen Schutzmassnahmen kämpfen, florieren in anderen Bereichen die Umsätze und die Betriebe sind – zumindest im Moment noch – ausgelastet. Gerade die Gastronomie- und Eventbranche stehen mit den er-neuerten Schutzmassnahmen vor grossen, ja vielleicht vor zu grossen, Herausforderungen. Viele Betriebe im Land verlagerten die Arbeitsplätze nach Hause, um so die Vorgaben der Regierung umsetzen zu können. Ein neuer Arbeitsalltag, der vor einigen Monaten noch undenkbar war. Diese Möglichkeiten hatten und haben die Gastronomen bekanntlich nicht.

Das Jahr hat Opfer gekostet, aber in den ersten Wochen war die Sorge im Hinblick auf den Erhalt der Arbeits-plätze sehr gross. Mittlerweile hat sich gezeigt, dass trotz allem fast al-le Arbeitsplätze im Gewerbe erhalten werden konnten. Schon erstaunlich, oder? Ja das stimmt, denn Gewerbe und Handwerk sichert Arbeitskräfte und garantiert höchste Qualität! Die Coronakrise hat gezeigt, dass gera-de qualifizierte Betriebe wirtschaftlich besonders stabil sind und ihre Beschäftigtenzahl halten können. Sie sind Kernstücke der regionalen Wertschöpfungskette und damit ein beständiges Gegenmodell zu globalisierten Wirtschaftsstrukturen. Qualifizierte Betriebe leben länger. Sie tragen da-her nachhaltig zur Sicherung der Arbeits- und Ausbildungsplätze bei und sind der wirtschaftliche Motor für die Entwicklung des regionalen Raumes. Aber dennoch, es waren einschneidende Zeiten. Mit den ersten Lockerungen im Juni 2020 ging die Wirtschaft einen weiteren Schritt in Richtung Normalität. Ei-ne Normalität wie vor Corona ist jedoch in weiter Ferne, denn das abrupte Herunterfahren verursachte Umsatzeinbussen, welche nicht mehr nachgeholt werden können. Die entgangenen Einnahmen in der Gastronomie und im Handel, um nur zwei Branchen zu nennen, sind weg. Nun haben wir die zweite Welle und es gilt tunlichst zu vermeiden, dass es zu einem erneuten Lockdown kommt. Denn diesen würden viele Unternehmer nicht verkraften. Wir sind noch nicht über den Berg und müssen wach-sam sein. Die Kurzarbeitsentschädigung war und ist eine der wichtigsten Massnahmen zum Ausgleich der wirtschaftlichen Folgen des Coronavirus. Darum wäre es wünschens-wert, wenn diese Verordnung noch weit in das Jahr 2021 erneut verlängert werden könnte.

In der Anfangsphase der Pandemie hat die Wirtschaftskammer gemein-sam mit Liechtenstein Marketing die Online Plattform «zemma» ins Leben gerufen worden. War das ein Beispiel für die sprichwörtliche liechtensteinische Solidarität? Für mich ist dieses Projekt unter dem Motto «zemma» ein Akt der Solidarität. Unter dem Schlagwort «zemma» konnte dies auch medial begleitet werden. Innert wenigen Tagen entstand eine Plattform, um das Gewerbe zu unterstützen und die Bevölkerung darauf aufmerksam zu machen. Das schnelle Handeln von Liechtenstein Marketing in Zusammenarbeit mit der Wirtschaftskammer machte dies erst möglich. Durch diese Initiative wurden die Anpassungsfähigkeit und der Ideenreichtum zahlreicher Unternehmen in Liechtenstein beschleunigt. Es entstanden in kürzester Zeit neue Geschäftsmodelle und Lieferwege, wie zum Beispiel Hauslieferdienste und Onlineplatt-formen. Und nochmals eine positive Wende, viele dieser Betriebe halten nun an den neuen Verkaufswegen fest und ergänzen so ihre bisherige Geschäftstätigkeit nachhaltig.

Wir führen dieses Interview Mitte Oktober und wir erleben, wie sich das Coronavirus offenbar wieder ausbreitet. Möglicherweise werden wir diese Solidarität erneut benötigen. Was denken Sie: Was wurde aus der Solidarität des Frühjahrs, ist sie noch spürbar und können wir uns wieder auf sie verlassen, falls es nötig werden sollte? Diese Frage ist im Moment nur schwierig einzuschätzen, da wir keine Zahlen seitens des Gewerbes vor-liegend haben. Aber eines ist sicher, die Solidarität ging sicherlich nicht gänzlich verloren, da bin ich mir sicher. Die Konsumenten schätzten das Angebot in Liechtenstein und bleiben diesen Geschäften treu, auch in Zukunft. Hinsichtlich der Zusammenarbeit seitens der Wirtschaftskammer und Liechtenstein Marketing kann ich heute bereits sagen, dass diese nachhaltig sein wird. Wir stehen bereits wieder in intensiven Gesprächen und planen, das Projekt langfristig auszugestalten.

Blicken wir auf die Zeit, die vor uns liegt: Was wäre aus Ihrer Sicht nötig, damit die Solidarität im Gewerbe wieder steigt und vor allem nachhaltig steigt? Es braucht zündende Anreize um die liechtensteinische Wirtschaft wieder in Fahrt zu bringen. Ende Juni haben wir hierfür unser traditionelles Unternehmerforum mit dem Arbeitstitel «Die Zeit danach; wie machen wir das Gewerbe fit?» abgehalten und möglichst viele innovative Ide-en kreiert, um das Gewerbe zu unterstützen. Wir haben vier Handlungsfelder definiert, welche neue Impulse und eine Vitalisierung in Liechtenstein bringen sollen.

Aber ist das wirklich realistisch? Reden wir doch beispielsweise einmal über den Handel, der seit Jahren über den Internethandel geschimpft hat. In der Coronakrise wurden kurzfristig Internetangebote ja förmlich aus dem Boden gestampft. Man könnte sagen, dass dies 10 Jahre zu spät passiert ist. Wieso sollte sich nun plötzlich so schnell so vieles bewegen, was offenbar in den vergangenen 10, wenn nicht 20 Jahren, kaum machbar war? Wir haben den Zug am Anfang sicherlich verpasst, aber es ist noch nicht zu spät auf einen nächsten aufzuspringen. In Liechtenstein konnte nun ein sehr rasanter Digitalisierungsschub beobachtet werden, welcher in Zukunft zu einer Stärkung des Gewerbes führen wird. Niemand sagt, dass es leicht sein wird. Aber oft muss man das Rad nicht neu erfinden. Mit guten Angestellten hohe Qualität und besten Service abzuliefern, reicht oft schon aus. Kombiniert mit Internetangeboten und schnellen Lieferzeiten verbinden wir dies zu einer grossen Kundenverbundenheit. Der Schlüssel dazu ist der Unterschied zwischen Menschen, die Dienst nach Vorschrift machen, und hoch engagierten Mitarbeitern. Sind Personen jedoch rückwärtsgewandt, ständig am Schimpfen auf Staat, Kunden und Internet, haben sie keine Chance in diesem Wettbewerb.

Die Situation fordert natürlich auch die Verbände. Wie konkret kann die Wirtschaftskammer das Gewerbe unterstützen, sich an die neuen Zeiten anzupassen? Das Team der Wirtschaftskammer erbrachte in dieser Zeit eine über-durchschnittliche Leistung zum Wohle aller Unternehmer. Nicht nur durch die persönliche Beratung hinsichtlich der Massnahmenpakete, sondern auch in der sehr schnellen Ausarbeitung von mehreren Schutz-konzepten. Diese wurden allen Be-trieben zur Verfügung gestellt, und nicht nur unseren Mitgliedern. Dies wurde von uns bewusst so gemacht, denn in einer Krise müssen alle zusammenhalten. Auch die kostenlose Herausgabe von Schutzmasken für alle betroffenen Betriebe im Land war und ist für uns eine Selbstverständlichkeit. Dies wurde nur durch die grosszügige Unterstützung der Hilti Family Foundation ermöglicht. Seitens der Wirtschaftskammer werden wir auch in den kommenden Wochen und Monaten mit aller Kraft für das einheimische Gewerbe mit Rat und Tat zur Seite stehen. Dafür sind wir da.

Und was erwarten Sie? Wird diese Frage von den Konsumenten und vom Gewerbe aufgenommen und mit welchen Gefühlen blicken Sie auf das Jahr 2021? Sicherlich müssen wir den Fokus Ausbildung, Mitarbeiter und Innovation ins Zentrum richten. Denn Qualifikation schafft Qualität, die sich nicht nur in der Güterproduktion, sondern auch in der Erbringung von Dienstleistungen bemerkbar macht. Qualität ist die einzige Chance, um im Wettbewerb als Hochlohnland bestehen zu können und sich gegen-über Niedriglohnländern und Online- Handel zu behaupten. Hand-werk setzt Massstäbe und ist weder veraltet noch statisch. Generell sollte der Fokus mehr auf dem Zusammenhalt als auf dem Gegeneinander liegen. Hier setzen wir auf das Gemeinschaftsgefühl und wollen dies gezielt fördern. Wir brauchen in Liechtenstein Zusammenhalt, Einheit und ein gelebtes Wir-Gefühl, um den Standort Liechtenstein noch lange auf der Erfolgsstrasse halten zu können. Dann, und nur dann, werden wir zufriedene und treue Konsumenten haben. Für das Bauhaupt-und Nebengewerbe würde ich mir zudem wünschen, dass Renovationen von öffentlicher Hand nicht auf die lange Bank geschoben werden und schrittweise in Angriff genom-men werden, und dass zum Teil Lücken im Gesetz des öffentlichen Auftragswesens (ÖAWG) gefunden werden, ohne es gleich zu umgehen.

Volksblatt “Standort Liechtenstein” am29. Oktober 2020