«In unsicheren Zeiten ist Vorsicht beim Ausbau von Sozialleistungen geboten.»

Unsere Gesellschaft steht vor immer neuen Herausforderungen, die es aktuell und vor allem mit Blick auf die Zukunft zu meistern gilt. Seit Jahren diskutieren wir über die demografische Entwicklung und die Probleme mit der Finanzierung der Renten und Gesundheitskosten, die mit dem erfreulicherweise steigenden Durchschnittsalter der Bevölkerung anwachsen und weiter anwachsen werden.
Begleitet werden diese Herausforderungen im Sozial- und Gesundheitsbereich durch den Klimawandel, dessen Auswirkungen auch in unserem Land – trotz Einbettung in der bislang gemässigten Klimazone – spürbar sind und sein werden. Als wenn es nicht schon genug Herausforderungen mit diesen drei Problembrocken geben würde, traf uns die Coronapandemie völlig unvorbereitet. Und seit einigen Wochen herrscht Krieg, der sich noch ausweiten könnte – nicht irgendwo weitab in der Welt, sondern in Europa. Begleitet von Boykott-Massnahmen der Europäischen Union und den USA sowie wirtschaftlichen Auswirkungen wie Material- und Rohstoffknappheit, was bereits zu erheblichen Preissteigerungen führte.

Vor diesem ansatzweise skizzierten Hintergrund ist die Forderung nicht verwegen, von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft zu verlangen, vorsichtig mit den vorhandenen Ressourcen umzugehen und keine Experimente einzugehen. Natürlich, noch spüren wir wenig, was die Bewältigung der genannten Herausforderungen kosten werde. Die Wirtschaft konnte sich bereits vom Coronaschock erholen, was in der niedrigen Arbeitslosenquote und der Schaffung neuer Arbeitsplätze sichtbar wird. Ausserdem befinden sich die Staatsfinanzen mit einem Überschuss für das Rechnungsjahr 2021 und mit hohen Reserven derzeit in einer komfortablen Lage. Angesichts der Öl- und Gaspreissteigerungen und allfällig weiterer Auswirkungen der westlichen Sanktionen gegen Russland ist Vorsicht geboten, wenn Forderungen nach einer Erhöhung von Sozialleistungen gestellt werden. Wie rasch der Staatshaushalt in eine unbequeme Schieflage geraten kann und wie einschneidend Massnahmen zur Sanierung der Staatsfinanzen ausfallen können, hat sich erst vor wenigen Jahren gezeigt.

Im Raum steht die Sicherung der AHV für künftige Generationen. Gleichzeitig gibt es Forderungen nach Erhöhung der AHV-Renten für die jetzige Rentnergeneration. Die Diskussionen um den Ausbau der Elternzeit und deren Finanzierung flammen immer wieder auf. Auch die Zunahme der Gesundheitskosten, von vielen als «Explosion» bezeichnet, gehört zu den Dauerthemen bezüglich der Finanzierung. Jedes dieser Themen hat seine Berechtigung. Wer ist schon dagegen, den Rentnern etwas mehr Geld zukommen zu lassen, nachdem sie ja den Grundstein für den Wohlstand gelegt haben? Wer will nicht den jungen Familien ermöglichen, die Rolle von Mutter und Vater besser wahrnehmen zu können, ohne finanzielle Einbussen zu erleiden? Wer gönnt unseren Älteren, Gebrechlichen und Kranken nicht die beste gesundheitliche Versorgung?

Dennoch, Vorsicht ist geboten. Denn einmal eingeführte Sozialleistungen lassen sich kaum abschaffen. Ausserdem steht manchen geforderten Massnahmen die Kritik entgegen, das Geld werde mit der «Giesskanne» verteilt. Oder anders gesagt, der staatliche Geldsegen erreiche auch solche Bezüger, die es wirtschaftlich nicht nötig hätten, vom Staat zusätzlich unterstützt zu werden. Die wirtschaftliche Notwendigkeit gerät in dieser Beziehung in Konflikt mit dem Gleichheitsgrundsatz der Verfassung. Um diesem Dilemma zu entkommen, wird es notwendig sein, einen politischen und gesellschaftlichen Konsens darüber zu finden, die Renten oder andere finanzielle Zuwendungen nach der Bedürftigkeit bzw. der Leistungsfähigkeit der Bezüger festzulegen.

Aber es wird auch notwendig sein, bei all den gut gemeinten oder gerechtfertigten Vorstössen bei den Sozialleistungen daran zu denken, dass die Finanzierung nur bei einer gut florierenden Wirtschaft möglich sein wird. Wohlstand und Sozialstaat lässt sich nur über eine leistungs- und konkurrenzfähige Wirtschaft finanzieren. Wie rasch ein Teil des wirtschaftlichen Lebens zum Erliegen kommen kann, hat uns die Lock-down-Phase der Pandemie eindrücklich vor Augen geführt. Noch gibt es keine Garantie, dass sich ein solches Szenario nicht wiederholen kann. Ebenso schwierig abzuschätzen ist heute, wie stark der Ukraine-Krieg unsere Wirtschaft beeinflussen wird. Vorsicht ist also geboten, wenn es um zusätzliche Sozialleistungen nach dem «Giesskannen-Prinzip» geht, denn im Hintergrund lauern zusätzlich noch die demografische Entwicklung und der Klimawandel, der uns wahrscheinlich nicht ungeschoren davonkommen lässt.

Wirtschaftregional, 20.05.2022, Gastkommentar von Dr. Martin Meyer